Ulm. Denkanstöße, die vierten: Auch die Auflage 2011 der Gesprächsreihe hatte große Zugkraft. Von vorn herein klar war, dass es eine eindeutige Antwort auf „Was zählt unterm Strich – Ich oder wir?“ nicht geben konnte.
Zum Finale leichte Ermüdungserscheinungen: Besucher des Schlusspodiums der 4. Ulmer Denkanstöße, organisiert und finanziert durch das Humboldt-Studienzentrum der Uni, das städtische Kulturamt und die Spardabank, hatten am Samstagabend keine Mühe, einen Sitzplatz im Stadthaus zu finden.
Das war während der Vorträge, Impulsreferate und Diskussionen zuvor von Donnerstagabend an teilweise anders gewesen: riesige Resonanz, oft überfüllter Saal. Entsprechend überschwänglich das Fazit Sabine Mayer-Dölles: „Die Denkanstöße sind eine tolle Erfolgsgeschichte“, sagte die Ulmer Sozial- und Kulturbürgermeisterin, neben Humboldt-Studienzentrumschefin Prof. Renate Breuninger eine Miterfinderin der Reihe. Auch Breuninger und der derzeitige Philosophie-Gastprofessor Günter Fröhlich zeigten sich am Ende der vierten Auflage begeistert: „Phantastisch, wie Ulm dieses Angebot annimmt“, kommentierte der gebürtige Augsburger Fröhlich abschließend.
In den Gesprächsrunden zuvor war versucht worden, das vielschichtige Beziehungsgeflecht zwischen Individuum und Gesellschaft ein wenig zu entflechten. Schließlich fallen die Denkanstöße hinein in eine Zeit, in der es nach Jahrhunderten des „grandiosen Aufstiegs des Ichs“ (der Schweizer Soziologe Prof. Peter Gross) zum guten Ton zu gehören scheint, Egoismus und Eigensinnigkeit zu geißeln und dem Phänomen der „Wiedergeburt des Narzissmus“ (Philosphie-Professor Hans-Werner Bierhoff, Ruhr-Uni Bochum) auf den Grund zu gehen.
Dabei sei es doch so, dass erst das „Ich ein Du ermöglicht, aus dem das Wir entstehen kann“, wie Prof. Heiner Fangerau (Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie, Ethik der Medizin an der Uni Ulm) als Teilnehmer am Abschlusspodium eine Erkenntnis der Denkanstöße zusammenfasste. Diese Finalrunde verdeutlichte, dass es ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen wäre, h?tte man danach getrachtet, eine alles gültige Antwort auf die Fragestellung „Was zählt unterm Strich – Ich oder wir?“ zu finden. Aber das, sagte Renate Breuninger zur SÜDWEST PRESSE, sei auch gar nicht Sinn der zweieinhalbtägigen philosophischen und soziologischen Exkurse. „Mehr, als die Stadtgesellschaft zum Nachdenken anregen, können wir nicht erreichen. Wunderbar, dass dies gelingt.“
Speziell Journalisten möchten freilich verständliche Antworten auf Fragen der Zeit finden. SWR-Kulturredakteur Ralf Caspary war als Moderator des Schlusspodiums auf klare Aussagen aus. Ausschnitte, beginnend mit der Frage an die sozial engagierte Stephanie Gräfin Bruges von Pfuel (Botschafterin SOS-Kinderdörfer), warum ihr das Wir wichtig sei. Antwort: „Das Miteinander, die Nächstenliebe gehören wie selbstverständlich zum Menschsein.“ Frage an den Ulmer OB Ivo Gönner: „Sie müssen altruistisch denken. Sind Sie ein Gutmensch?“ Antwort: „Es ist die Aufgabe des Oberbürgermeisters, allen gleich gerecht zu sein, Armen und Reichen. Das gilt um so mehr in Ulm, wo der OB dem Schwörbrief verpflichtet ist.“ Frage an den Frankfurter Politikforscher Prof. Christian Stegbauer: „Macht das Internet uns solidarischer oder zu Egomanen?“ Antwort: „Frage falsch gestellt. Eine Technik macht nicht uns zu etwas, der Mensch macht etwas mit einer Technologie. Soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook stellen Gefäße zur Verfügung, die die Teilnehmer gemeinsam füllen.“ Frage an den Berliner Publizisten und Autor Richard Herzinger („Die Tyrannei des Gemeinsinns“): „Was ist zu kritisieren am Wir-Gefühl?“ Antwort: „Dass es den Egoismus zur rituell unterdrückten Eigenschaft macht. Getarnt für die gute Sache, kann das Wir inakzeptabel werden.“
Ich oder wir? Auch Bürgermeisterin Mayer-Dölle versuchte sich in einem geradezu philosophisch anmutenden Fazit zum Thema: „Ich oder wir ist nicht der Unterschied. Alles hat seine Berechtigung zu seiner Zeit – und bedarf der Reflexion.“ HANS-ULI THIERER
Was ist wichtiger: Ich oder wir? Die Fragestellung der „Denkanstöße“ griff ein originäres Menschheitsthema auf, auf das die aktuellen Bilder aus Japan scheinbar nur eine Antwort erlauben: Ohne Solidarität wäre alles ganz und gar verloren.
Das bemerkenswerte Ulmer Gesprächsformat erzeugt große Aufmerksamkeit. Eine Botschaft lautet: Von wegen Verflachung, es existiert ein großes Bedürfnis nach Tiefgang und Erklärung.
Ich oder wir? In Bezug auf die „Denkanstöße“-Reihe lautet die Antwort: Wir. Ist doch das 80 000 Euro schwere Budget nur in der Dreieinigkeit von Uni, Stadt und Sparda-Bank als der Hauptgeldgeberin zu finanzieren. Der Erfolg sollte die Ulmer Stadtpolitik ermuntern, Vertrauen zu setzen in die Initiatorinnen – die feministische Anmutung deshalb, weil es die Denkanstöße ohne Humboldt-Studienzentrumsleiterin Renate Breuninger und Bürgermeisterin Sabine Mayer-Dölle wohl kaum gäbe. Über den städtischen Zuschuss von 15 000 Euro, im Haushalt als „Sonderfaktor“ ausgewiesen, wird jedes Jahr aufs Neue im Rahmen der Eckwerte-Beratung im Juli befunden. Sonderfaktoren sind stets auch Unsicherheitsfaktoren, da sie gern mal zur Disposition gestellt werden.
Die Organisation der Denkanstöße bedarf des Gegenteils: der Planungssicherheit – und des nachhaltigen Vorlaufs. Der Zuschuss sollte eine feste, berechenbare Größe im Haushalt werden. Das wäre dann die zweite Botschaft. HANS-ULI THIERER
Peter Sloterdijk umspannt im Stadthaus die Menschheitsgeschichte
Ulm. Bei Festredner Peter Sloterdijk wurde der Meier-Bau bis zu den übertragungsstationen Treppenhaus und Oberetage des Stadthauscafés mit Videoprojektionen zum multimedialen Hörsaal. Gleich zu Beginn dieser vierten „Ulmer Denkanstöße“ rief Ulms Kulturbürgermeisterin Sabine Mayer-Dölle das Publikum im bis ins Treppenfoyer bespielten Stadthaus zu einer Schweigeminute im Stehen in Gedenken an die Opfer der japanischen Tragödie auf. Bildungsministerin Annette Schavan konnte nicht an der Eröffnung der Veranstaltungsreihe des Humboldt-Studienzentrums der Uni Ulm, der Stadt und der Sparda-Bank, teilnehmen: Kurzfristig war beim Bundespräsidenten eine Sitzung wegen der Katastrophenhilfe für das gepeinigte Land einberufen worden.
Die Philosophie finde in Zeiten der Umbrüche ein ungeahntes Interesse, konstatiert Mayer-Dölle auch für die Ulmer Stadtgesellschaft öffentliches Interesse hinsichtlich der Bemühungen des Studienzentrums für Philosophie und Geisteswissenschaften. Dieses ist angedockt an die Uni auf dem Oberen Eselsberg, die keine geisteswissenschaftliche Fakultät hat. Toleranz und Dialog sind laut Mayer-Dölle mehr denn je gefordert. Unterm Strich zähle mehr das „Wir“ als das „Ich“. Diese Einschätzung teilt auch Sparda-Bank-Vorstandsvorsitzender Thomas Renner.
Uni-Präsident Joachim Ebeling hebt in der Umkehrung das „Ich“ im Zusammenwirken mit dem „Wir“ hervor: „Eine Doktorarbeit sollte zumindest das Werk eines Einzelnen sein“. In Sachen einer von vielen seit Langem vermissten geisteswissenschaftlichen Fakultät an der Universität gab sich Ebeling eher skeptisch: Alle Ulmer Vorstöße seien von Stuttgart bislang abgeschmettert worden. „Doch“, so Ebelings Aufruf nach Bildung in einer Ich und Wir-Gesellschaft: „Wenn wir alle zusammenhalten, können wir’s möglicherweise vielleicht doch noch schaffen“. „Sloterdijk ist im Raum“, ruft Renate Breuninger, die den großen Denker zu den von Musiktalenten des SpardaPreCollege der Karlsruher Musikhochschule hochkarätig untermalten „Ulmer Denkanstößen“ holen konnte.
Der TV-bekannte Philosoph und Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe bindet zum Ende seines über gut Eineinviertelstunden packenden, kulturphilosophischen Vortrags zum Thema „Der starke Grund zusammen zu sein“ den durch die Erbeben- und Tsunami-Katastrophe ausgelösten Reaktor-GAU in Fukushima in seinen anthropologischen Exkurs mit ein.
Dieser große Kopf bewegt sich auf den massigen Schreibtisch via Podium zu, nimmt Platz zwischen Selters und Großleinwand, lächelt verschmitzt, unterstreicht mit Bewegungen der rechten Hand die Signalwirkung seiner Sätze, zwirbelt im Nachsinnen oder Neuansatz seinen Oberlippenbart und packt mit seinem monologisch verästelten Essay in verhaltenem, aber klar vernehmlichem und akzentuierendem Stimmtimbre die Menschheitsgeschichte beim Schopfe. Ein Skandal im „Synchronstress“ der „Sorgengemeinschaften“ sei immer ein Fest für den Soziologen, positioniert er sich angesichts eines „artifiziellen Sorgenclubs“ Deutschland.
Ausgehend von der Menschheitszerstreuung durch uralte afrikanische Wanderbewegungen erkennt er heute das (globalisierte) Zeitalter der „Wiederversammlung“, das gekennzeichnet sei durch das Paradoxon der „Verwandtschaft mit der Unfähigkeit des Zusammenkönnens“. Der Staat von heute sei Mitglied einer „paradoxen Gattung“. Zuvor charakterisiert er „acht starke Gründe“ des Zusammenlebens: Dazu rechnet er Motiv stiftende soziale Bande ebenso wie den „Zirkulationsraum der Gabe“ (die im Kreislauf von Geben und Nehmen etwas zurück wolle) oder die Solidargemeinschaft bis zur massiven Stresskooperation: In Japan hätten sich freiwillig Männer für die Arbeit in den Unglücksreaktoren gemeldet.
Im Übrigen hält es Sloderdijk, der auch als Analytiker im Plauderton antiker und biblischer Mythen glänzt, in seiner Epochen umfassenden Ideen-, Verhaltens- und Menschheitsanalyse, mit Erich Kästner: „Der Mensch ist gut! Da gibt es nichts zu lachen!“ ROLAND MAYER
Ulm. Die Krisen haben zu einem Paradigmenwechsel geführt: weg vom Ich-, hin zum Wir-Gefühl. Sagt Zukunftsforscher Prof. Horst Opaschowski.
Wie war das noch bis zur Jahrtausendwende? Individualisierung, Spaßkultur, Hedonismus und Konsum über alles feierten frühliche Urständ – und dem Gemeinwesen, dem sozialen Zusammenhalt, drohte der Kollaps. Und die Politiker diskutierten: Deutschland altert, schrumpft und schafft sich ab. Das alles gelte nicht mehr; seit 2001 finde ein Umdenken in der Gesellschaft statt, stellte Zukunftsforscher Prof. Horst Opaschowski gestern bei den 4. Ulmer Denkanstößen im vollbesetzten Stadthaus fest: „Deutschland verändert sich, erneuert sich, wird sozialer.“ Wer früher allein eine Kugel schob, schiebt sie heute mit anderen zusammen – „bowling together“ statt „bowling alone“.
Verantwortlich für den Wertewandel in der Gesellschaft sind die Krisenerfahrung der vergangenen Jahre, „sie haben für den Abschied vom grenzen- und bedenkenlosen Geldausgeben gesorgt“, sagt Opaschowski. Materielle Sicherheit, soziale Geborgenheit stünden jetzt an erster Stelle, die Spaßkultur weiche neuer Ernsthaftigkeit – „und die Egoisten haben keine Zukunft mehr. Das Ich braucht das Wir.“ Eine Ära der Nachhaltigkeit im Zwischenmenschlichen macht Opaschowski aus; gleichzeitig wachse eine „neue Lust auf Familie“. Früher noch ein Auslaufmodell, werde die Familie als Wert an und für sich erkannt. „Sie gibt Ansehen, Sicherheit und Geborgenheit und sie erfährt eine Aufwertung als Grundbaustein der Gesellschaft“, sagt der Publizist und Politikberater.
Apropos Politik: Der „Vertrauensverlust gegenüber Politikern“ sei enorm. Ihnen gehe es nur um den Machterhalt, urteilten 87 Prozent der Bürger. Die Antwort auf die Krise der Politik? Die Bürger griffen zur Selbsthilfe, Übernehmen Verantwortung.
Unterm Strich werden die Deutschen wohl ärmer, aber durch den Wertewandel nicht unglücklicher. Letztendlich müsse sich aber jeder selbst fragen: Wie will ich leben? RUDI K?BLER
Ulm. Was zählt: Ich oder wir? Dieser Frage widmen sich die 4. Ulmer Denkanstöße. Peter Sloterdijk eröffnete sie am Abend – im rappelüberfüllten Stadthaus.
Peter Sloterdijk oder Richard David Precht? Es ist mäßig zu fragen, wer von beiden die Nummer eins unter Deutschlands Denkern sei. Beide sind Groß-Philosophen. Der eine, Sloterdijk, stellte es gestern Abend als Eröffnungsredner der 4. Ulmer Denkanstöße unter Beweis (mehr darüber morgen).
Die Veranstaltungsreihe des Humboldt-Studienzentrums der Uni Ulm, der Stadt und der Sparda-Bank hat, so kurz sie besteht, das intellektuelle Ulm hinter sich gebracht – und wie: Das Stadthaus überfüllt, dutzende Zuhörer mussten sich mit Plätzen im Treppenhaus und auf den Fluren begnügen.
Dorthin wurden Sloterdijks Vortrag und die Grußworte der Kulturbürgermeisterin Sabine Mayer-Dölle, des Sparda-Vorstandschefs Thomas Renner, des Uni-Präsidenten Prof. Karl-Joachim Ebeling und der Humboldt-Studienzentrums-Chefin Prof. Renate Breuninger ebenso übertragen wie ins obere Stockwerk des Stadthaus-Cafés. Ob ein dermaßener Andrang die Landespolitik von der Notwendigkeit überzeugt, in Ulm doch noch die seit langen vermissten geisteswissenschaftlichen Studiengänge zu schaffen? Ebeling sprach es zwar an, allein ihm fehlt „nach allen Signalen“ der Glaube. Immerhin: „Sie haben Ihr Ziel erreicht: der Sloterdijk ist da“, sagte er zu Breuninger, die sich gestern vor Komplimenten für ihre Arbeit nicht retten konnte.
Im Übrigen wäre Ebeling nicht Ebeling hätte er nicht zum Start der Denkanstöße eine Gegenthese in die Tiefe des Raumes im Stadthaus-Saal gestellt: Es gehe nicht um „Ich oder wir“, sondern um eine „wohl temperierte Ich-und-wir-Gesellschaft“. Denn Grundideen gingen immer von Einzelnen aus, siehe Apple, siehe Google. „Die Umsetzung erfolgt dann durchs Wir.“ HANS-ULI THIERER